Wir müssen unsere Kinder früher aufklären – diese Zahlen zeigen, wieso

• In Deutschland findet Sexualerziehung frühestens in der Grundschule statt

• Experten finden: Das ist viel zu spät

“Stopp, ich mag das nicht”, rufen die Kinder mit ernster Miene. Gleichzeitig symbolisieren sie mit ausgestreckter Hand “Bleib weg von mir”. Die Drei- bis Sechsjährigen stehen im Kreis. Sie lernen gerade, dass niemand sie anfassen darf, wenn sie es nicht wollen. Und sie lernen, “Nein” zu sagen. Diese Lektion gehört zur “Aufklärungswoche” in einem Münchner Kindergarten. Die Erzieherinnen haben sich dazu entschlossen, mit den Kindern schon jetzt über ihre Körper zu sprechen.

► In Deutschland ist das vielen Eltern zu früh.

Manche sind sogar entsetzt und sprechen aufgeregt von einer “Frühsexualisierung der Kinder”. Und dass diese sofort gestoppt werden müsse.

Früh aufgeklärte Kinder sind besser vor sexuellem Missbrauch geschützt

Dabei kann sexuelle Aufklärung gar nicht früh genug stattfinden.

► Denn Kinder seien besser geschützt, wenn sie richtig aufgeklärt werden, sagt die Psychologin Uta Troike.

Also: Wenn sie gelernt haben, “sich selbst zu lieben, ihre kindliche Neugier und Entdeckerfreude zu befriedigen, ihre Gefühle wahrzunehmen und auszudrücken, selbstbewusst Nein zu sagen, wenn sie bestimmte Berührungen oder unpassende Nähe nicht mögen.”

Laut der polizeilichen Kriminalstatistik gab es in Deutschland im Jahr 2016 über 12.000 Ermittlungs- und Strafverfahren wegen sexuellen Kindesmissbrauchs. Die Dunkelziffer ist aber weitaus höher. Die Weltgesundheitsorganisation WHO geht davon aus, dass in Deutschland rund eine Million Mädchen und Jungen von sexuellem Missbrauch betroffen sind.

Sexuelle Aufklärung kommt oft zu spät

► Das bedeutet: In jeder Schulklasse sitzen ein bis zwei Schülerinnen oder Schüler, die sexuell missbraucht wurden.

Die Kinder erzählten von dem Missbrauch oft erst, wenn sie 15 oder 16 Jahre alt seien. Jedoch würden viele Kinder schon vor dem zehnten Geburtstag Opfer sexuellen Missbrauchs werden, schreibt der Verein Regenbogenwald – Hilfe zur Selbsthilfe.

Das Durchschnittsalter für sexuellen Missbrauch liege bei Mädchen zwischen 9 und 11,4 Jahren und bei Jungen zwischen 9,8 und 12 Jahren. Manche von diesen Kindern wissen noch nicht einmal, was Sex überhaupt ist. Wie sollen sie sich dann davor schützen? Doch in Deutschland beginnt Sexualkundeunterricht meist erst in der Grundschule, in manchen Bundesländern auch erst in weiterführenden Schulen. Das sei viel zu spät, sagt die Sexualtherapeutin Ann-Marlene Henning.

In jedem Bundesland wird anders aufgeklärt

In allen Bundesländern gibt es unterschiedliche Richtlinien. Meistens geht es in der Grundschule los, wie in Sachsen-Anhalt, Bayern, im Saarland, in Thüringen, Hessen und Baden-Württemberg. Oft findet die Sexualerziehung fächerübergreifend statt und wird in Biologie, Religion, Deutsch, Heimat- und Sachkunde und anderen Fächern unterrichtet. Dabei gibt es von Bundesland zu Bundesland schon große Unterschiede.

In Bayern steht in der ersten und zweiten Klasse die Anatomie des Körpers auf dem Programm. In der dritten und vierten Klasse lernen die Kinder dann, die Geschlechtsmerkmale zu benennen, und wie ein Kind gezeugt wird.

In den saarländischen Grundschulen wird das Thema etwas detaillierter unterrichtet. Hier geht es neben dem Basiswissen bereits um Homosexualität, Rollenbilder in den Medien und sexualisierte Gewalt. Und in Schleswig-Holstein steht Sexualkundeunterricht in der Grundschule noch gar nicht auf dem Lehrplan.

Es sind wohlgemerkt nur Grundkenntnisse, die in der Grundschule bis zum Abschluss vermittelt werden. Die Schüler lernen, wie ihre Körperteile heißen, sie wissen, wie ein Kind gezeugt wird und wie es auf die Welt kommt, wissen über Periode und Samenerguss Bescheid. Natürlich alles in einem rein biologischen Rahmen.

Kinder wollen mehr über Sex wissen

Dabei würden Kinder gerne viel mehr über Sex wissen – und das schon in jungen Jahren, heißt es in einer Befragung der BZgA. Auch Experten finden: Aufklärung in Deutschland geschieht viel zu spät. “Zu spät, zu wenig und zu biologisch!”, sagt Sexualtherapeutin Henning.

► Denn Kinder seien von Anfang an sexuelle Wesen.

Schon im Mutterleib könne man beobachten, wie männliche Embryos eine Erektion haben, schreibt Henning in ihrem Buch. Untersuchungen der Gehirne von Neugeborenen würden zeigen, dass diese auf jede Berührung reagieren. Und bereits Kleinkinder fangen an, ihre Geschlechtsteile zu erforschen, im Kindergarten gehören Doktorspiele dann zum Alltag.

Ein Drittel der 14- bis 15-Jährigen hat Hardcore-Pornos gesehen

Es ist eine Illusion zu glauben, Eltern könnten ihre Kinder vor der Auseinandersetzung mit dem Thema bewahren. Kinder, die heute in der Pubertät sind, sind mit der Sex-Flut aufgewachsen. Ein Drittel der 14- bis 15-Jährigen hat bereits Hardcore-Pornos gesehen. Das haben Wissenschaftler der Universitäten Münster und Hohenheim bei einer Befragung von 1048 Kindern und Jugendlichen herausgefunden. Und der Trend geht dazu, dass Kinder in immer jüngerem Alter ihren ersten Porno sehen, wie die Studie belegt.

Nur die Hälfte der Jugendlichen sehe die Inhalte, weil sie danach suche. Die andere Hälfte stoße zufällig darauf. “Die Ergebnisse legen nahe, dass Kinder und Jugendliche mit etwas konfrontiert werden, was sie weder sehen wollen noch richtig verstehen”, heißt in der Studie. Die Kinder und Jugendlichen würden sich mit den Themen so gut wie gar nicht an Eltern und Lehrer wenden wollen, so das Fazit der Studie. Und das sei ein ernstes Problem.

Jugendliche brauchen mehr Infos über Sex

Viele Jugendliche machen sexuelle Erfahrungen heute früh.

► Neun Prozent der 15-Jährigen und 39 Prozent der 16-Jährigen hatten schon Sex.

Das geht aus einer Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) aus dem Jahr 2015 hervor. Viele Jugendliche haben also Pornos gesehen, bevor sie selbst Sex haben. Kinder wachsen mit falscher Vorstellung von Sex auf. Das ist ein großes Problem. Denn: “Was man uns in den Medien als Sexualität präsentiert, hat mit der Wirklichkeit nicht viel zu tun”, schreibt die bekannte Sexualberaterin Ann-Kathrin Henning in ihrem Aufklärungsbuch “Make Love”. Viele Kinder und Jugendliche wachsen also mit einer völlig falschen Vorstellung von Sexualität auf. Aber wer soll ihnen die Fragen beantworten, die sie interessieren? Die Eltern? Die Schule?

► Die Schule ist bei der Vermittlung des Basiswissens immer noch sehr wichtig.

“Über 80 Prozent der Mädchen und Jungen geben an, ihre Kenntnisse über Sexualität, Empfängnisverhütung und Ähnliches stammten überwiegend aus dem Schulunterricht”, heißt es in der Studie der BZgA.

Wissen fürs Leben

Die Zahlen zeigen, wie wichtig Aufklärung ist, wie wichtig frühe Aufklärung ist. Um mit der eigenen Sexualität umzugehen und sich zu schützen. So, wie sie die Kinder aus dem Münchner Kindergarten lernen. Sie wissen, was ein Penis und eine Scheide sind und dass nicht jeder sie dort anfassen darf. Dass nur sie darüber bestimmen dürfen. Die meisten deutschen Kinder lernen das frühestens in der Grundschule. Für ein bis zwei Kinder kommt die sexuelle Aufklärung dann zu spät.

TextKatharina Hoch
Text Katharina Schneider
FotografieGetty
MediumHuffPost
Datum2018
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