Auf dem Atoll im Great Barrier Reef vor der Ostküste Australiens gibt es alles, was man sich als Kurzzeitgestrandeter erhofft: eine kleine, abgeschiedene Insel, weißen Sandstrand, türkisfarbenes Meer. Und ein unglaubliches Riff mit der Garantie, Riesenschildkröten und Haie zu sehen. Das wollen Felix und ich uns auf unserer viermonatigen Reise durch Down Under nicht entgehen lassen. Besonders, weil Felix ein großer Unterwasserweltfan ist.
Nach einer zweistündigen Fährfahrt mit einem Katamaran von der australischen Hafenstadt Gladstone verwandelt sich das Dunkelblau des Pazifiks unter uns langsam in ein Hellblau mit türkisen Nuancen. Am Horizont erstreckt sich ein weißer Strich, geschmückt mit sattem Grün.
Bei der Einfahrt in das Atoll könnte die Begrüßung nicht spektakulärer sein. Zwei Rochen schwingen ihre flügelartigen Brustflossen elegant zu unserer Rechten, und ein Riffhai umkreist hektisch die Pfosten des Piers. Es scheint, als würden sie sagen: «Welcome to Heron Island.»
Dass Heron Island 1920 der Herstellung von Schildkrötenkonserven diente, ist nur schwer zu glauben. Auch noch in den 1950er-Jahren kamen Touristen meist zum Schildkrötenfang auf das Eiland, oder um sich bei einem Schildkrötenritt ablichten zu lassen. Heute sind die Inselbewohner immer noch die Hauptattraktion, jedoch stehen sie mittlerweile unter Schutz. Es gilt: nicht berühren, nur beobachten!
Das Turtle-Nesting zwischen November und März will kaum jemand verpassen. Abhängig von den Gezeiten kriechen täglich etliche Meeresschildkröten an Land und vergraben ihre Eier im Sand. Wer die Tiere verpasst, kann zumindest die hinterlassenen Spuren im Sand begutachten – sie erinnern an Abdrücke von Raupenfahrzeugen.
Die Schildkröten kehren fürs Eierlegen an den Ort zurück, an dem sie selbst das Licht der Welt erblickt haben. Das Turtle-Hatching, welches man mit etwas Glück auch bestaunen kann, bezeichnet das Schlüpfen der Winzlinge zwischen Januar und Mai. Wenige Sekunden nach dem Schlüpfen wackeln die Jungen von ihrem Nest ins offene Meer. Nur eines von tausend schafft es dabei ins Erwachsenenalter. Diese wundersamen Geschöpfe in ihrer natürlichen Umgebung, sei es an Land oder unter Wasser zu beobachten, ist das Highlight auf Heron Island.
Genau deswegen sind auch wir hier. Das Eintauchen in eine andere Welt fasziniert uns. Im Marine Center statten wir uns mit Taucherbrille, Schnorchel und Flossen aus. Der Tauchlehrer informiert uns und den Engländer Robert, der sich für den nächsten Tauchgang anmeldet, über die gefährliche Cone Shell. «Sammelt oder berührt keine Muscheln», warnt er uns. Die giftige Schnecke lebt in einer wunderschön gemusterten Muschel und kann sogar tödlich sein.
Schnorcheln kann man entweder an der Riffkante oder direkt vom Strand ausgehend. Ich starte von der Shark Bay aus und erhoffe mir, hier zu sehen, was der Name verspricht. Bereits nach den ersten Flossenschlägen starren mich zwei Augen an. Im Sand hat sich ein Gitarrenrochen vergraben. Man kann ihn leicht mit einem Hai verwechseln, denn die Rückenflossen der beiden sehen täuschend ähnlich aus.
Die Unterwasserwelt ist wunderschön. Ich will gar nicht mehr auftauchen. Kleine bunte Fische tummeln sich in den Korallen, schwimmen eilig umher, verstecken sich unter Steinen. Ich sehe Zebrafische, Kofferfische, Clownfische und etliche, deren Namen ich gar nicht kenne.
Schließlich zeigt er sich: rechts von mir ein Huschen. Mein Herz rast. Auch wenn dieser Riffhai kaum größer als eineinhalb Meter ist – er beeindruckt! Einige Sekunden kann ich ihm hinterherblicken. Dann verschwindet er in blauer Ferne. Ein schneller Auftritt.
Das Wort «Hai» löst bei vielen Menschen Unwohlsein und Angst aus, und ich muss zugeben, auch bei mir. Doch warum eigentlich, frage ich mich nach meiner kurzen Begegnung mit dem Schreckgespenst. Durch Filme wie «Der weiße Hai» oder andere Horrorgeschichten haben wir uns unsere Meinung längst gebildet: Haie sind gefährlich. Aber diese Vorstellung bestätigt sich in der Realität nicht. Natürlich ist es lebensgefährlich, wenn ein Hai einen Menschen tatsächlich angreift. Allerdings kommt das nur sehr selten vor. Es ist angeblich wahrscheinlicher, von einer fallenden Kokosnuss erschlagen, als von einem Hai getötet zu werden.
Auch wenn man Heron Island mit anderen Gästen teilen muss, fühlt man sich hier schnell wie Robinson Crusoe. Natur pur, einzigartige Korallenriffe, Artenvielfalt, einsame Strände und das Festland in weiter Ferne. Wir stellen uns vor, dass wir Gestrandete sind. Besucher in einer uns fremden und fesselnden Welt. Nur wir und der endlose Ozean.
Für den zweiten Schnorchelgang spazieren wir zum Pier. «Schau mal!», ruft Felix mir zu. «Eine kleine Schildkröte.» Als ich sie erblicke, ist es um ihr Schicksal schon geschehen. Eine Möwe hat sich gerade ihr Mittagessen geholt, und die frisch geschlüpfte Babyschildkröte baumelt in ihrem Schnabel. So habe ich mir das aber nicht vorgestellt. Wie gemein. Ich bin schockiert und traurig, weiß aber: Auch die Möwe muss ihre Jungen sattkriegen.
Unweit vom Strand liegt ein verrostetes Schiffswrack. Nach wenigen Schwimmzügen erreiche ich es und erblicke zuerst den in den Meeresboden gerammten Bug. Beim Umrunden des alten Wracks schießen mir wieder Szenen aus «Der weiße Hai» durch den Kopf, und beim Anblick des dunklen Schiffsinneren stoße ich die Flossen noch kräftiger ins Wasser. An diesem unheimlichen Ort will ich nicht unbedingt einem Hai begegnen. Doch gleich zwei bereiten mir nun das Vergnügen.
Die durch die Taucherbrille eingeschränkte Sicht trägt nicht gerade zu mehr Durchblick in dieser mir sowieso schon unbekannten Welt bei, sondern steigert eher meine Unsicherheit. Deswegen bin ich ein wenig erleichtert, als ich das Wrack hinter mir lasse.
Und endlich. Tief unter mir bewegt eine Schildkröte gemächlich, aber majestätisch ihre Flossen. Die Urbewohnerin der Meere. Man möchte sein menschliches Dasein vergessen und ihr blind ins dunkle Blau folgen. Sie ist die eine von tausend, die es geschafft hat. Mach’s gut, Kassiopeia!
Trotz sommerlicher Temperaturen freue ich mich jetzt auf eine heiße Dusche. Der Name unseres Bungalows erinnert an eben Erlebtes: Turtle Room. Das Bett sieht sehr einladend aus, doch mein Magen erzählt mir etwas anderes – der Hunger spricht Klartext!
Auf dem Weg ins Restaurant fühlen wir uns wie auf einem Minenfeld. Seevögel regieren nämlich das Innere der Insel. Sie nisten und verrichten ihr Geschäft überall. Somit ist der Boden mit weißen Flecken gesprenkelt. Der leicht stechende Geruch und das permanente Vogelgezwitscher sind wohl die bitteren Nebeneffekte, die man hier schlichtweg ertragen muss. Den kurzen Fußmarsch bis zum Eingang des Restaurants zu überstehen, ohne einen der fliegenden Haufen abzubekommen, misslingt mir.
Das Informationszentrum beim Restaurant interessiert besonders die kleinen Gäste, denn dort kann rund um die Unterwasserwelt – von farbenreichen Muscheln bis hin zu riesigen Schildkrötenpanzern – alles bestaunt und betastet werden.
«Haben Sie vergessen, die Uhr umzustellen?», fragt uns die Dame am Empfang des Restaurants höflich. «Ja stimmt, das haben wir.» Auf Heron Island ist es eine Stunde später als auf dem Festland in Queensland. Eigentlich hätten wir für 19 Uhr reserviert. Nach dem Essen wollen wir uns am Strand auf die Suche nach den großen Meeresschildkröten machen. Leider sind wir aber auch dafür zu spät, wir finden lediglich Panzerspuren im Sand. Die Tiere sind wohl schon wieder in den Tiefen des Meeres.
24 Stunden gestrandet auf Heron Island – dabei alles auskosten, was die Insel bietet, ist nicht einfach. Als wir das Eiland am nächsten Tag verlassen, wartet ein letztes Spektakel auf uns: Acht Babyhaie schwimmen ununterbrochen im Kreis, nur drei Meter vom Strand entfernt – als tanzten sie Ringelreihen. Bye-bye Heron Island!