«Wenn wir konstruktiv streiten, lernen unsere Kinder das auch»

Der Konflikt- und Familienberater Mathias Voelchert sagt, was Mütter und Väter beim ­Streiten unbedingt vermeiden sollten, wie sich Kinder fühlen, wenn sie zu ­Streitschlichtern werden – und inwiefern sie von einem Elternstreit profitieren können.

Herr Voelchert, als ich klein war, haben meine Eltern fast jeden Tag gestritten. Mein Vater war sehr impulsiv, wurde beim Streiten meistens sehr laut und hat auch viele Schimpfwörter benutzt. Meine Mutter hat manchmal geweint. Haben meine Eltern alles falsch gemacht?
 
Nein, das glaube ich nicht. Viele denken ja, dass wir schlechte Eltern sind oder schlechte Eltern hatten, wenn nicht alles harmonisch läuft oder lief. Aber Harmonie ist ja kein Zeichen für gute Beziehungen. Harmonie ist eine Momentaufnahme eines langen Prozesses, der immer wieder neu beginnt. Harmonie und Konfliktfreiheit werden in unserer Zeit auch leider manchmal zur Sucht. Keine Konflikte heisst gute Beziehung. Das stimmt natürlich nicht. Konflikte gehören zu jeder Beziehung dazu.
 
Also ist Streit vor Kindern per se nicht schlecht?
 
Streit ist wunderbar und gehört zum Leben dazu. Aber nur, wenn er konstruktiv geführt wird. Wenn destruktiv gestritten wird, ist das furchtbar für Kinder. Wenn der Streit zum Beispiel nie ein Ende findet und die Grundstimmung ständig schlecht ist.
 
Was löst das bei Kindern aus?
 
Wenn ein Kind einmal so einen Streit mitbekommt, dann passiert gar nichts. Wenn aber ständig des­truktiv gestritten wird, dann belastet dies die Kinder schon sehr. Zum Beispiel, wenn sich Mutter und Vater dauernd dasselbe vorwerfen – «immer machst du dies und jenes» oder «nie hörst du mir zu» – und zu keiner Lösung kommen, nicht aufeinander zugehen. Kinder fühlen sich dann schnell verantwortlich für den Streit, entwickeln Schuldge­fühle und haben Verlust­ängste. Ein 9-jähriges Mädchen, dessen Eltern sich oft gestritten und schlussendlich auch getrennt haben, hat mal zu mir gesagt: «Wenn ich abends im Bett liege und meine Eltern streiten höre, spanne ich meine Muskeln ganz fest an und liege starr im Bett, weil ich Angst habe, dass meine Eltern auseinandergehen. Ich hoffe so sehr, dass meine Mama und mein Papa zusammenbleiben.»
 
Was wäre für Mütter und Väter ein absolutes No-Go beim Streiten vor den Kindern?
 
Nicht nur vor den Kindern, sondern generell wäre ein No-Go, den anderen schlechtzumachen. Den eigenen Hass auf den Partner oder die Partnerin zu projizieren. Was man auch vermeiden sollte, ist, sich immer wieder im Kreis zu drehen. Immer wieder die gleichen Vorwürfe machen. Dasselbe Theater. Ich habe das bei meinen Eltern auch so erlebt und habe mir ganz früh vorgenommen, das anders zu machen. Manchmal habe ich es geschafft und manchmal nicht.
Ich habe zwei Kinder und ertappe mich immer wieder dabei, dass ich mich beim Streit mit meinem Mann nicht so verhalte, wie ich es mir eigentlich wünsche. Haben Sie einen Tipp, wie ich das besser schaffen kann?
 
Oft reagieren wir unangemessen, wenn wir gestresst sind. Wenn wir uns zu viel aufgeladen haben und nicht auf uns achtgeben. Streiten sorgt dann für Stressabbau. Besser wäre es aber, wenn wir den Stress schon vor dem Streiten loswerden. Wenn ich Seminare gebe, sage ich den Teilnehmern oft, dass sie sich ein Glas Wasser vorstellen sollen, das bis obenhin gefüllt ist und beinahe überläuft. Das Wasser symbolisiert Stress. Stress bei der Arbeit, Stress mit den Kindern, Stress in der Partnerschaft, Stress mit den Schwiegereltern, Stress mit mir selbst. Ein weiterer Tropfen Stress fällt in das Glas und es läuft über. Es ist genau der eine Tropfen zu viel. Mein Kind lässt vielleicht ein Glas Kakao auf den frisch geputzten Boden fallen oder mein Partner sagt etwas Falsches, und ich platze. Meine Reaktion ist nicht mehr adäquat zu dem, was passiert ist. Mein Gegenüber bekommt alles ab, was sich in dem Glas befindet. Jetzt ist die ­grosse Frage: Was macht man da? Die Lösung, die ich für mich gefunden habe, heisst: abtrinken. Wir müssen dafür sorgen, dass dieses Glas nicht zu voll wird.
 
Und wie geht das?
 
Indem man sich bewegt und die aggressive Energie umwandelt. Indem man sportlich tätig ist, für sich sorgt und sich Pausen gönnt. Indem man das loswird, was in einem ist.
 
Das heisst, Aggression ist eine Energie, die im besten Fall nicht über Streit, sondern über andere Wege ­herausgelassen werden muss?
 
Ganz genau. Aggression ist eine wichtige innere Kraft, die wir haben und auch brauchen. Aggression ist nichts anderes als Energie. Wenn ich sie aber so lange aufstaue, bis ich sie nicht mehr halten kann, dann bringt dieser kleine Tropfen das Fass zum Überlaufen. Und dann kriegen die anderen alles ab.
 
Kinder versuchen ja auch oft den Streit zu schlichten.
 
Da habe ich ganz spezielle Erfahrungen. Meine eigenen Eltern haben mich immer als Streitschlichter benutzt. Ich bin mit 18 Jahren ausgezogen, und immer wieder haben sie mich angerufen und gesagt, dass ich kommen muss, weil sie Streit haben. Das habe ich zwei Jahre gemacht und gemerkt, dass das nicht funktioniert und ich damit aufhören muss.
 
Was macht es mit Kindern, wenn sie zu Streitschlichtern werden?
 
Sie fühlen sich im ersten Moment gross. Das ist aber eine falsche Art von Grossfühlen. Und sie übernehmen Verantwortung, die sie noch gar nicht tragen können. Das überfordert sie schnell. Streit zu schlichten, ist nicht ihre Aufgabe. Kinder müssen Kinder bleiben dürfen.
 
Was ist ein guter, ein konstruktiver Streit?
 
Wenn ich den Konflikt zuerst bei mir anpacke. Wenn ich es schaffe, mich anzuschauen, die eskalierende Emotion einzufangen und erst dann in die Verhandlung gehe: Das ist konstruktiv. Wenn ich nicht mit Vorwürfen auf mein Gegenüber zugehe, sondern mit Ich-Botschaften. Streit als solcher, wenn er konstruktiv geführt wird, ist eine Form des Dialogs. Ich höre mir die Meinung des anderen an, lasse sie auf mich wirken und mache mir Gedanken darüber. Nach ein paar Stunden oder Tagen gehe ich auf die andere Person zu und sage: «Dies ergibt Sinn für mich, jenes aber nicht.»
 
Kann ein Kind von einem ­konstruktiven Streit auch profitieren?
 
Natürlich, immer. Kinder machen uns ja alles nach. Wenn wir destruktiv streiten, streiten sie sich auch destruktiv. Wenn wir lernen, unsere Streitkultur auf konstruktiv umzustellen, dann lernen unsere Kinder auch, konstruktiv zu streiten.
 
Sie haben schon sehr viele Paare in Konfliktsituationen beraten. Worüber streiten Elternpaare am häufigsten?
 
Paare streiten sehr oft über Unwesentliches. Oft dreht es sich um das Thema Ordnung. Der eine findet es besser, wenn man alles in die Spülmaschine steckt, der andere spült lieber von Hand ab. Darüber kann man wunderbar streiten. Aber das Streitthema ist meiner Erfahrung nach nicht das wirkliche ­Thema, sondern bloss ein vorgeschobenes. Ein Stressthema. Und diese oberflächlichen Themen verhindern, dass wir die wesentlichen Themen angehen.
 
Was sind die wesentlichen ­Themen?
 
Oft geht es um Themen, die mit der eigenen Kindheit zu tun haben. Mit dem Erleben der eigenen Eltern. Man muss bedenken, dass da zwei Menschen von unterschiedlichen Planeten zusammenkommen. Auf dem einen Planeten hat man gebetet, auf dem anderen gab es gar keinen Gott. Unter solchen Bedingungen zusammenzufinden, ist eine grosse Herausforderung, aber auch eine grosse Chance.
 
Was sagen Kinder über die ­Streitigkeiten ihrer Eltern?
 
Sie spielen es immer runter. Wenn bei mir eine Familie mit drei Kindern in der Beratung sitzt, sagen die Kinder nicht: «Meine Eltern streiten so viel.» Kinder sind sehr loyal gegenüber ihren Eltern. Es fällt ihnen schwer zu sagen: «Da hast du mich verletzt und da bin ich dir jetzt böse.»
 
Wenn mein Mann und ich streiten, sagt meine Tochter oft zu uns, dass sie das nicht toll findet und dass sie Angst hat, dass wir uns trennen.
 
Wenn das in einer Familie gesagt werden kann, ist der Krieg gewonnen. Wenn die Kinder sagen können «Ich mag es nicht, wenn ihr streitet, ich habe Angst, dass ihr euch trennt» und das Gesagte von den Eltern auch gehört und darauf reagiert wird, dann wird es konstruktiv.
 
Oder man sagt dem Kind: «Ich ­verstehe, wenn du traurig bist, aber Streit gehört zum Leben dazu. Ab und zu hat man Konflikte, aber die lösen wir jetzt zusammen.»
 
Genau. Es geht darum, dass man dem Kind klarmacht: Unser Leben ist kein Werbefernsehen und keine Kinderserie. Was wir heute in Soaps und in Serien sehen, ist nicht das echte Leben. Die wahren Konflikte werden oft gar nicht dargestellt. Und wenn sie dargestellt werden, wird meistens nicht gezeigt, was man dann tun kann. Wie man sich verhalten und konstruktiv mit einer Konfliktsituation umgehen kann.
 
Da fallen mir die Conni-Bücher ein,  die auch eine heile Welt darstellen ohne Konflikte zwischen Eltern.
 
Ja, und es ist wichtig, Kindern zu sagen: «Es ist ganz natürlich, dass du dir die Conni-Welt wünschst. Wir sind aber keine Conni-Familie. Wir sind eine ganz normale Familie, in der es manchmal drunter und drüber geht und in der es unvernünftige Erwachsene gibt. Aber wir arbeiten daran, uns Stück für Stück zu verbessern.»
 
Wir hören immer wieder in den ­Medien, dass häusliche Gewalt und Streit in Familien aufgrund der ­Pandemie gerade zunehmen. Was ist Ihr Eindruck, wie es den Familien ­derzeit geht?
 
Es gibt eine gute Schweizer Studie, die sagt, dass es in vier von fünf Familien ganz gut läuft, was Corona betrifft. Das sind aber die Familien, bei denen es bisher auch ganz gut lief. Und in den 20 Prozent der Familien, wo es vorher schon schlecht lief, läuft es jetzt noch schlechter. Und zwar, weil die Unterstützung, die sie von aussen bekommen haben, fehlt. Auch wir erleben in den Beratungen, dass es vielen Familien recht gut geht, dass aber einige Familien auch an ihre Grenzen kommen. Dass der Stress einfach grösser wird. Und wenn der Stress grösser wird, nimmt das Konfliktpotenzial zu, und dann lässt man manchmal eine Situation eskalieren, in der man früher ruhig geblieben wäre.
 
Dass Streitigkeiten zunehmen, liegt wahrscheinlich auch daran, dass man mehr Zeit miteinander verbringt. Oder?
 
An der Zeit liegt es nicht. Nach unserer Erfahrung ist es die Enge des Raums, die einen fertigmacht. Wenn man zu viert auf 50 Quadratmetern leben muss, das aber nie so geplant war, weil normalerweise ein Elternteil den Grossteil des Tages bei der Arbeit verbringt und die Kinder im Kindergarten oder in der Schule sind, jetzt aber viel mehr zu Hause sind, dann führt das zu mehr Konflikten. Ganz klar. Wenn man zu viert auf 100 Quadratmetern wohnt und jeder sein eigenes Zimmer hat und die Tür zumachen kann, dann haben wir eine ganz andere Lage. Deswegen ist die häusliche Situation in sozial schwachen Familien um einiges prekärer, weil sie zu eng aufeinandersitzen.
 
Das heisst, je mehr Raum, umso ­weniger Konflikte?
 
Der Raum ist für Paarbeziehungen und Beziehungen in Familien ein sehr bedeutsames Element. In unserer Zeit ist es elementar wichtig, dass Vater, Mutter und Kinder jeweils einen eigenen Raum haben, in den sie sich zurückziehen können.
 
Es braucht also auch jeder Elternteil ein eigenes Zimmer?
 
Im besten Fall, ja. Bei neun von zehn Familien habe ich erlebt, dass sie viel mehr Platz brauchen, als sie glauben. Wenn es um die Kinder geht, sind sich die Eltern meistens einig, dass jedes ein eigenes Zimmer braucht. Meistens kommen sie aber nicht auf die Idee, dass sie als Erwachsene auch je ein Zimmer brauchen könnten. Dass sie auch mal das Bedürfnis haben, die Tür zuzumachen.
 
Und das würde dann helfen, ­Konflikten vorzubeugen?
 
Genau. Eine wichtige Präventionsmassnahme gegen Streit um oberflächliche Themen sind Rückzugsmöglichkeiten. Die Möglichkeit zu sagen: «Da möchte ich jetzt nicht weiter reden, ich ziehe mich  zurück.» Man zieht sich zurück, um abzukühlen. Dann kann man nach zehn Minuten oder zwei Stunden wieder rauskommen und die emotionale Ladung ist weg. Man kann wieder freundlich miteinander reden. Das ist absolut wichtig und wird total unterschätzt.
 
Mehr Streit zu Hause, geschlossene Schulen, Kontaktbeschränkungen: Werden die Kinder durch Massnahmen gegen Corona nachhaltig geschädigt?
 
Ich kann mich der Hysterie nicht anschliessen, dass jetzt über Generationen Kinder traumatisiert sein werden. Das halte ich für viel zu hoch gehängt. Das mag bei einzelnen Fällen der 20 Prozent, von denen die Schweizer Studie berichtet, vorkommen. Diese Familien bräuchten jede Hilfe, die ein Staat geben kann. Aber dass alle Kinder einen psychischen Schaden von den Corona-Massnahmen bekommen, glaube ich nicht. 
Was ist denn mit Eltern, die ihre ­Konflikte nicht austragen – jedenfalls nicht vor den Kindern.
 
Kann man auch zu wenig streiten?
 
Ja, klar. Wenn man Dissens nicht ausdrückt, streitet man zu wenig. Wenn wir anderen erlauben, dass sie ständig unsere Grenze überschreiten, werden wir krank. Streit ist eine lebensnotwendige Selbstverteidigungsmassnahme. 
 
Für viele Eltern ist ein harmonisches Familienleben das höchste Gut. Was passiert, wenn man den Kindern ­Harmonie vorgaukelt, es aber ­innerlich brodelt?
 
Sie merken es und werden alarmiert. Die Kinder merken, dass da was nicht stimmt und Mama und Papa ihnen etwas vorspielen.
 
Was kommen da für Gefühle bei ­Kindern hoch?
 
Ich kann meinen Eltern nicht trauen.
 
Das heisst, den Streit auf abends ­zu verlegen, ist auch keine Lösung?
 
Nein. Die Eltern müssen den Kindern sagen: «Wir haben unterschiedliche Meinungen zu verschiedenen Sachen, versuchen aber eine Lösung zu finden.»
 
Ein Streit zwischen meinem Mann und mir eskaliert vor den Kindern. Wie gehe ich danach auf meine Kinder zu?
 
Wenn wir uns wieder beruhigt haben, müssen wir uns mit den Kindern hinsetzen und in Worte fassen, was da gerade passiert ist. Eltern können sagen: «Wir sind immer noch nicht derselben Meinung, aber wir haben uns wieder beruhigt. Und wir wollen euch sagen, dass wir manchmal unvernünftig sind und blöde Sachen machen. Der Streit war so eine blöde Sache. Wir sind nicht perfekt und machen auch Fehler.» Es ist wichtig, auf die Gefühle der Kinder einzugehen. In so einer Situation haben sie ja Angst. Sie haben Angst, dass die Eltern auseinandergehen, sich trennen. Dass die Familie kaputtgeht. Wenn die Kinder aber sehen, dass sich die Eltern danach wieder vertragen, kann das eine wunderbare Erfahrung für sie sein. Es zeigt ihnen, wie belastbar ihre Familie ist. Nach dem Motto: Ein Streit haut uns nicht um. Meine Eltern streiten zwar, kommen dann aber wieder zusammen. Das ist eine wichtige Information für die Kinder. Sie spüren, dass sie nicht existenziell gefährdet sind.
 
Wann sollte man sich Hilfe holen?
 
Wenn destruktiver Streit immer wieder auftritt und man den Eindruck hat, dass man es alleine nicht schafft, ist eine Beratung oder eine Kurzzeittherapie hilfreich.
 
 
 

 

TextKatharina Hoch
FotografieMathias Voelchert
MediumElternmagazin Fritz+Fränzi
Datum2021
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